Lassen sich mit virtuellen Zwillingen „Was-wäre-wenn“-Szenarien simulieren?

Wer träumt nicht von einem Blick in die Glaskugel. Die fortschreitende Digitalisierung ermöglicht es, immer mehr Daten zu sammeln und zu analysieren. Beispielsweise, um in der Konstruktion parallel ein 3D-Modell eines Produktes zu modellieren und zu simulieren. Falltests, Materialprüfungen oder Stresstests geben Antworten auf Fragen wie „Was ist passiert?“ und „Warum ist es passiert?“. Unternehmen erfahren durch diese konstruktionsbegleitenden Simulationen jedoch nicht, wie sich das Produkt über seinen gesamten Lebenszyklus verhält: Ist die Produktgestaltung fertigungsgerecht und recyclebar? Liefert das Produkt bei der Nutzung die versprochene Leistung?

Es handelt sich also um die Betrachtung eines einzeln agierenden Objekts, losgelöst von seiner Umgebung. Dies liefert zwar Informationen im Hier und Jetzt, aber noch kein Wissen darüber, was mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit in Zukunft passieren wird. Ähnlich verhält es sich, wenn man die Fertigung, die Produktionsplanung oder die Lieferkette als einzelne „Silos“ einer Wertschöpfungskette betrachtet und analysiert. Unternehmen benötigen daher eine ganzheitliche Sicht auf ihre Geschäftsprozesse. Erst dann lässt sich echter Mehrwert aus digitalen Daten generieren und Prozesse optimieren. Doch wie schaffen Unternehmen den Blick aufs große Ganze?

Digitaler Zwilling vs. virtueller Zwilling

Das oben beschriebene 3D-Modell eines Produktes wird als digitaler Zwilling bezeichnet. Er ist ein digitaler Repräsentant eines physischen Objektes und verschmelzt die Grenzen zwischen digitaler und realer Welt. Unternehmen können bereits ab der Konzeption vom Aufbau eines digitalen Zwillings als Simulationsmodell profitieren und in kurzer Zeit eine Vielzahl an Ideen ausprobieren, ohne für jede Variante einen physischen Prototyp erstellen zu müssen.

Der digitale Raum wird damit zum Testlabor und reduziert Prototypen auf ein absolutes Minimum. Mögliche Fehler am 3D-Modell lassen sich schnell erkennen und sind dank der Konnektivität zwischen Konstruktions- und Simulationssoftware einfach korrigierbar. Durch die gewonnene Zeitersparnis können Produkte schneller die Marktreife erreichen. Gleichzeitig werden in großem Maß physikalische Ressourcen geschont, was Unternehmen dabei hilft, ihre Wertschöpfungskette nachhaltiger zu gestalten und den eigenen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern.

Virtuelle Zwillinge gehen noch einen Schritt weiter. Sie vereinen die Daten und Algorithmen des Simulationsmodells eines digitalen Zwillings mit verschiedenen Technologien wie beispielsweise IoT, künstliche Intelligenz (KI bzw. AI) oder Cloud Computing. Auf diese Weise lassen sich digitale Abbilder physischer und nicht-physischer Objekte als digital vernetzte Systeme im Kontext mit ihrer Umgebung modellieren, visualisieren und simulieren. Dabei integriert der virtuelle Zwilling kontinuierlich Echtzeitdaten aus der realen Welt in ein wissenschaftlich fundiertes Modell eines Produktes, einer Fabrik oder eines Prozesses und erzeugt somit einen geschlossenen Kreislauf, der eine Optimierung in praktisch jedem Szenario ermöglicht.

Effiziente Entwicklung und Produktion

Die Industrie nimmt beim Einsatz von virtuellen Zwillingen eine Vorreiterrolle ein. Produkte, Maschinen und Anlagen lassen sich über den gesamten Lebenszyklus digital abbilden und mithilfe von beliebig vielen „Was-wäre-wenn“-Szenarien systematisch untersuchen. Virtuelle Zwillinge werden damit zu einem wichtigen Fundament zur Optimierung der Produktentwicklung und -produktion, indem Strategien kritisch hinterfragt sowie die Planung und Ausführung von Prozessen durchgängig synchronisiert werden können. Zudem verbessert die ad hoc Verfügbarkeit der Rückschlüsse auf die Nutzung in der realen Welt den Workflow: Entscheidungen können schneller und fundierter getroffen und Freigabeprozesse verkürzt werden.

Virtuelle Zwillinge sind vielseitig einsetzbar

Aber auch andere Industrien profitieren vom virtuellen Zwilling. Dassault Systèmes hat mit 3DEXPERIENCity den virtuellen Zwilling der Stadt Singapur geschaffen. Eine digitale Umgebung, in der Stadtplaner künftige Szenarien ihrer Stadt visualisieren und simulieren können. Ihr Ziel ist es, weitere Stadtentwicklungen nicht dem Zufall zu überlassen, sondern beispielsweise den Bau neuer Gebäude auf den Prüfstand zu stellen und Antworten darauf zu bekommen, ob zwischen den Bauten noch genügend Luft zirkuliert oder welche Schatten die neuen Gebäude werfen. Der virtuelle Zwilling wird dabei immer mit aktuellen Daten gespeist. So können die verantwortlichen Planer verfolgen, wie sich die Menschen innerhalb Singapurs bewegen und wo Straßen, Parkplätze oder Brücken fehlen. Auch Evakuierungsszenarien lassen sich darstellen, um Fluchtwege in Gebäuden und in den Straßenfluchten zu simulieren und mögliche Gefahren von vorherein auszuschließen. Im Grunde geht es darum, die Stadt intelligent und immer mit Blick auf die Menschen, die darin leben, in die Zukunft zu planen.

Nachhaltigkeit braucht Innovation

Digitale Technologien wie der virtuelle Zwilling sollten nie dem Selbstzweck, sondern immer den Menschen dienen. Unabhängig davon, ob es darum geht, lebenswichtige Ressourcen zu schonen, Menschen bei ihrer Arbeit zu unterstützen oder Städte lebenswert zu gestalten. Virtuelle Zwillinge fördern umweltverträgliche Innovationen und helfen dabei, aus Daten Wissen zu generieren und mit diesem Wissen die Welt jeden Tag ein Stückchen besser zu machen.